29. April 2021
Jedes Jahr gibt es die lebenswerteste Stadt in Europa und der ganzen Welt. Für Urlaubsplanung oder eine grundsätzliche Lebensveränderung sicher ein guter Indikator. Doch ist diese Prämierung ganz und gar nicht oberflächlich, denn es fließen sehr viel mehr Faktoren in diese Entscheidung ein, als man zunächst vermuten würde.
Von Barbara Jahn
Schweizer Qualität. Zürich, die Stadt am Zürchersee, führt 2021 die Top Ten Europas an. © Zürich Tourismus
Städte rund um den Globus ziehen Menschen magisch an. Nicht nur als Tourist, sondern in erster Linie als Lebensraum. Und deren Schönheit liegt selbstverständlich – wie immer – im Auge des Betrachters. Die Hotspots sind einzigartig, überraschen mit Sehenswürdigkeiten und pulsierendem Leben und wirken wie ein Magnet, vielleicht sogar, weil man nicht immer nur die Erfüllung aller Träume dort sieht, sondern einfach ein Grundbedürfnis nach ausreichend Infrastruktur, Digitalisierung und einem breiten Angebot an Kultur, Bildung, Gesundheit und Anlaufstellen für diverse Bereiche des Lebens hat. Experten prophezeien
Um all das besser zur verstehen, muss man definitiv genauer hinsehen. Denn nicht immer ist ganz nachvollziehbar, nach welchen Gesichtspunkten die eine Stadt ganz oben rangiert, während sich eine andere mit einem gleichwertigen Erscheinungsbild weiter hinten platziert wurde. In das Ranking, das jedes Jahr neu bewertet und dadurch eine gewisse Dynamik in sich birgt, fließen nicht nur ästhetische, sondern vor allem auch politische, wirtschaftliche, ökosoziale und soziokulturelle Aspekte mit ein, die am Ende in der Bewertung ein großes Ganzes ergeben. Aber auch medizinische Versorgung, Verkehrsverbindungen, Strom- und Wasserversorgung, Wasserqualität, Freizeit- und kulturelle Angebote sowie die Qualität von Konsumgütern und Ausbildung spielen eine wesentliche Rolle.
Nordisches Flair ist gefragt. Eindhoven, derzeit Platz 2, zieht nicht nur Touristen, sondern auch viele Studenten in seinen Bann. © Wikipedia / Michiel Verbeek
Die Dynamik ist dabei unberechenbar: Schnell wird man vom Thron gestoßen, wenn andere nachziehen. Zum Beispiel Wien, berühmt für Musik und seine Universitäten, ergatterte bereits zehnmal den Titel „Lebenswerteste Stadt der Welt“. Heute – 2021 – ist es immerhin weltweit wieder Platz zwei hinter Melbourne. Im europäischen Vergleich aber zeigt Numbeo, größte Datenbank für Städte und Länder, ein anderes Bild. Hier belegt Wien nur den 7. Platz, während sich Zürich, Eindhoven und Kopenhagen als Top 3 behaupten können. Es folgen Reykjavik, Luxemburg, Edinburgh, Platz 8 bis 10 belegen schließlich München, Helsinki und Goetheborg. Und auch das kann sich ganz schnell wieder ändern.
Was fällt bei dieser jährlich neu gezeichneten Landkarte auf? Alle Top Ten befinden sich in nordischen oder mitteleuropäischen Ländern. Aber was ist es, das diese Städte auszeichnet? Als gebürtige Wienerin, die in dieser Stadt auch lebt und arbeitet, erlebe ich die Veränderungen und Initiativen der Stadt hautnah mit. Nicht immer gelingt alles so, dass alle zufrieden sind, aber es ist auch eine bekannte Wiener Eigenschaft, sich zuerst mal skeptisch zu äußern, solange, bis man sich ohnehin gar nicht mehr vorstellen kann, dass es jemals anders war. In Wien bemerkt man, dass sich die Menschen langsam den Raum wieder zurückholen, der in den Jahrzehnten des Automobils zugunsten dessen leider immer mehr verloren ging.
Italien ergrünt. Nicht nur dem Verkehr in den Städten wird der Kampf angesagt, es werden auch grüne Oasen geschaffen wie der Bosco Verticale von Architekt Stefano Boeri.
© Studio Boeri / Dimitar Harizanov
In einem Interview mit der Wiener Stadtplanerin Daniela Allmeier von Raumposition (www.raumposition.at) werden Zusammenhänge klar, die nicht nur Wien betreffen, sondern auch viele andere europäische Städte, wo bereits ebenfalls ein massives Umdenken eingesetzt hat. „Es ist völlig absurd, wenn man sich ansieht, wieviel Raum dem Menschen bleibt im Vergleich zu dem, der ruhendem und fließendem, motorisiertem Individualverkehr eingeräumt wird. Ich denke aber, dass wir vor einem Paradigmenwechsel stehen“, sagt Daniela Allmeier, die positiv in die Zukunft blickt, denn sie weiß, dass sich in Europa schon einiges tut, etwa die Superblocks in Barcelona oder im Stadtteil Hamburg-Ottensen. „Dort wird aufgezeigt, dass der „Raum zwischen den Gebäuden“ mehr Qualität für alle mitbringen kann und es sicher lohnenswert ist, solche Konzepte in Zukunft weiter zu verfolgen.“
Werfen wir – abseits der Top Ten – einen Blick Richtung Süden, wo beispielsweise italienische Städte vorzeigen, wie eine urbane Zukunft aussehen kann. Hier gibt es schon lange das Bestreben, die Innenstädte weitestgehend vom Individualverkehr freizuhalten. Allerdings ist hier der Druck aber auch entsprechend groß, weil der Platz sehr begrenzt ist. Dennoch hat man sich dort den öffentlichen Raum zurückgeholt. Um dieses Ziel zu erreichen, ist für Daniela Allmeier klar, dass auch die Bevölkerung mitgenommen werden muss, denn jede Form der Mobilitätsänderung bedeutet zugleich eine Verhaltensänderung. „Die EU macht mit ihrem Call „Fit For Urban Mission“ erste Schritte in diese Richtung und lädt 100 europäische Städte ein, sich auf den Weg zur Klimaneutralität zu machen. Es wurde erkannt, dass ein solcher Transformationsprozess ohne aktive Einbeziehung der Zivilgesellschaft nicht erfolgreich sein kann.“
Autos raus, Menschen rein. Superblocks gibt es in Barcelona schon länger. Dieses visionäre Konzept wird nun schon in mehreren europäischen Städten erwogen.
© Superbe-Team TU-Wien
Insgesamt wird die Klimadebatte eine immer größere Rolle in den zukünftigen Rankings spielen. Lenkt man den Blick auf die öffentlichen Plätze, so merkt man, dass der Wandel langsam Formen annimmt. Man versucht, eine Art Reparaturarbeit zu leisten, um die Sünden der 1960er Jahre, in denen man überall Parkplätze geschaffen hat, wieder rückzubauen und Plätze wieder als Bühnen des öffentlichen Lebens zu begreifen. Es werden Begegnungszonen geschaffen, öffentliche Trinkwasserbrunnen und Sprühnebelfontänen, ebenso wird gepflanzt, wo immer es möglich ist.
Die Lebensqualität einer Stadt definiert sich nicht zuletzt über den öffentlichen Raum, der in vielen Städten Europas neu gedacht wird. „Er soll ein Ort sein, wo man sich als Mensch wohl und sicher fühlt – unabhängig von Alter und körperlicher Verfassung. Er funktioniert für unterschiedliche Nutzergruppen, er ist offen, inkludiert und ermöglicht. Wohlfühlen heißt auch die Wahl zu haben, etwa nicht konsumieren zu müssen, aber zu können, in Kontakt treten zu können, aber nicht zwingend interagieren zu müssen“, sagt Daniela Allmeier. Sicher ein Ansatz, der auch abseits der Hitparade lebenswerter europäischer Städte mit dem richtigen Engagement überall dort zum Ziel führen wird, wo man verstanden hat, worum es wirklich geht.